Während meiner Zeit im Stuttgarter Schriftstellerhaus fragte mich Astrid Braun, ob ich Lust hätte, eine Schreibwerkstatt im Haus anzubieten. Im Sommer wurde die Sache konkret, und Astrid schlug mir Titel und Untertitel für die Werkstatt vor:
Erinnern, auswählen, gestalten. Wie finde ich Ausdruck und Form im erinnernden Schreiben?
Damals fasste ich die Idee so auf, dass es um autobiografische Stoffe gehen würde, für die eine literarische Form gefunden sein will. Und diese Form, so verstand ich den Begriff “erinnerndes Schreiben”, wäre relativ eng gefasst: literarisches Tagebuch, autobiografischer Roman, etwas in der Art.
Aber irgendwie hakte sich damals schon der Begriff “erinnerndes Schreiben” fest. Er schien noch auf etwas anderes zu deuten. Dem bin ich erst Monate später nachgegangen, als Astrid und ich uns nach einigen Anfragen zur Werkstatt zu einer Erweiterung des Themas entschlossen. Hier ein Auszug aus der Beschreibung:
Erinnerung spielt beim Schreiben eine – mindestens – doppelte Rolle:
Zum einen kann die Erinnerung der schreibenden Person Quelle und Ausgangspunkt vielfältiger literarischer Werke sein: von literarischen Tagebüchern und autobiografischen Erzählungen bis hin zu Gedichten, Dramen, Kurzprosa, Drehbüchern und Romanen, denen man den realen stofflichen Untergrund mehr, weniger oder überhaupt nicht ansieht.
Die Haltung des Erinnerns ist zum anderen aber auch eine literarische Form: Die Figur, das literarische Ich erzählt von dem, was hinter ihm liegt. „Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände …“, beginnt etwa „Der Name der Rose“ von Umberto Ecco. Dieses literarische Ich und seine Biografie kann frei erfunden sein. Dennoch geht es um Erinnerung, wenn auch eine aus dem Land der Fiktion.
ERINNERN strahlt in Bezug aufs Schreiben also sozusagen in zwei Richtungen aus:
Diese beiden sind nicht aufeinander angewiesen. Ein autobiografischer Stoff muss nicht in der Haltung des Erinnerns geschrieben werden, aus ihm kann buchstäblich alles werden. Und umgekehrt: Der Haltung des Erinnerns muss kein autobiografischer Stoff zugrundeliegen.
Hinauf …
Für mich ist Erinnern – in beiderlei Bedeutung – als “Ordnungsprinzip” oder Perspektive, um literarische Werke zu betrachten, so spannend, dass ich diesem Gedanken weiter nachgehen will und noch einmal dazu schreibe. Vorerst aber ein paar Anregungen für diejenigen, die sich für die Werkstatt interessieren, aber noch keine rechte Idee haben, was und worüber sie schreiben könnten. (Für mich selbst waren Schreibanregungen nur für eine sehr kurze Zeit hilfreich, danach entwickelte ich eine wachsende Aversion dagegen. Allerdings ist es eben individuell sehr unterschiedlich, was man zum Schreiben und vor allem zum Anfangen braucht.)
… oder hinab
Manche Anregungen sind entlehnt aus Büchern oder anderen Quellen. Manche formuliere ich auf Englisch – zum Teil wegen der Quelle, zum Teil wegen des Tons, der manchmal ausschlaggebend ist dafür, ob eine Idee zündet bzw. überhaupt entsteht.
Erste und letzte Male (Natalie Goldberg, Writing down the Bones)
The first time I saw him
The last time I saw my mother
Geborgte Anfänge
Ich kenne Aja, seit ich denken kann.
In jenem Sommer, als mein Vater den Bären kaufte …
Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht.
Wir liegen auf den beiden Matratzen, nicht Seite an Seite, dennoch Kopf an Kopf.
(Damit die Quellen nicht die Anregung verhindern oder überlagern, verstecke ich sie hier).
Titel
My favorite nightmare
Kleinster Fanclub der Welt
Maikäfergeschichte
Friend of mine
Die zweite Stille
Wer mit einem autobiografischen Stoff andocken will, kann verschiedene Formen ausprobieren: Erzählung in Ich-Form, Gedicht, Dialog …
Und wer gerne erfindet, kann in der Haltung des Erinnerns (siehe das Beispiel oben von Ecco) aus einer fiktiven Biografie erzählen.